Jahresbericht 2019

«Du musst nie in ein Pflegeheim !»

Meine Frau steht im 77. Lebensjahr; ich bin ein Jahr älter. Und während die Erinnerungen meiner Frau seit 15 ­Jahren langsam schwinden, erwachen sie zunehmend in meinem Gedächtnis.
Mario Marchetti

Also lebe ich immer mehr mit der Vergangenheit. Auch übertragen sich seit Beginn ihrer Alzheimer-Erkrankung immer mehr Funktionen von ihr auf mich. Wenn man jemanden sehr liebt und ihn über 50 Jahre begleitet hat, übernimmt man automatisch all diese Aufgaben. Man entwickelt einen unglaublichen Willen, alles zu tun und zu unternehmen, damit der geliebte Mensch sich so lange und so gut wie möglich zu Hause wohl fühlt.


Leider kommt der Tag, an dem Kommunikation nicht mehr möglich ist. Dann kann man nur noch auf Mimik und Körpersprache reagieren und raten, was gemeint sein könnte. So kann man nicht mehr beurteilen, ob die Betroffene sich wohl fühlt, Schmerzen hat, oder sogar nicht mehr leben will. Ebenso kommt die Zeit, wo immer mehr Körperfunktionen versagen. Am schlimmsten ist die Inkontinenz. Auch hier versucht man sich ins Gegenüber hinein­zuversetzen. Wie ist das wohl, wenn man keine Gewalt mehr hat über seine Ausscheidungen? Nicht mehr weiss, wo und wie dies zu erledigen ist?


«Du musst nie in ein Pflegeheim!», habe ich meiner Frau immer versprochen. Aber niemand kann voraussagen, welche Defizite bei einer alzheimerkranken Person als nächste auftreten. Zum Glück konnte ich mir im Internet viel Wissen aneignen, Entwicklungen und Tendenzen des Krankheitsverlaufs studieren. Deshalb war ich immer einen kleinen Schritt voraus und konnte beispielsweise notwendige Umbauten in der Wohnung selber vornehmen.


Tag und Nacht, jede Minute war meine Frau an meiner Seite und ich an ihrer. Nie musste ich fremde Hilfe beanspruchen. Aber als sie 12 Jahre nach dem Auftreten der ersten Symptome nicht mehr allein stehen konnte, hatte das Daheimleben ein Ende. Nach all meinen Anstrengungen und Aufopferungen konnte ich im Moment, da ich sie in fremde Hände geben musste, nur noch weinen.


Seit bald drei Jahren besuche ich sie nun fast alle Tage im neuen martha­stift. Dort treffe ich Leidensgefährtinnen und -gefährten mit einer ähnlichen, aber doch immer anders verlaufenden Geschichte. Mit der Zeit hat sich eine neue Gemeinschaft der Angehörigen gebildet, die sich Tag für Tag am immer länger werdenden «Stammtisch» mit unseren kranken Liebsten versammelt. Wir duzen uns und erzählen von uns, vom Leben unserer Partnerinnen und Partnern vor der Krankheit, von unseren Erfahrungen. Wir teilen Kummer und Sorgen, fragen uns, wie es weiter geht und wie es enden wird.


Wir versuchen, uns gegenseitig mit lustigen Geschichten aufzumuntern. Und manchmal werden wir auch von einem Heimbewohner oder einer Bewohnerin überrascht; zum Beispiel wenn ein sonst sehr stiller Heimbewohner, der normalerweise fast nicht mehr kommunizieren kann, mitten im Gesprächsfluss und genau im richtigen Moment eine passende und humorvolle Antwort platziert. Lachen ist dann erlaubt …


Zu unserer Runde gehört auch Rita. Sie ist Bewohnerin des neuen martha­stifts und sitzt im Rollstuhl. Jeden Tag wird sie vom IVB-Bus abgeholt und zur Arbeit gefahren. Am Abend gesellt sie sich dann zu uns an den Stammtisch und rezitiert Gedichte. Mit einem davon – Autor unbekannt – will ich diesen kurzen Einblick in meinen «Leidensweg» und den meiner Frau gewähren:
 

«So oft die Sonne aufersteht, erneuert sich mein Hoffen. Und bleibet bis sie unter geht, wie eine Blume offen.»
Heidi Marchetti wurde im Beisein ihres Ehemannes am Samstagmorgen, 13. Mai, von ihrem Leiden erlöst.